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Recht haben oder glücklich sein

Einen Tag nach meiner 3. Impfung liege ich mit Nebenwirkungen im Bett. Mein Körper reagiert auf den Impfstoff, mein Immunsystem schlägt Alarm und in meinen Gedanken herrscht Aufruhr. Wieder einmal meldet sich mein starkes Bedürfnis nach Sicherheit, nach Antworten, nach Experten, denen ich glauben kann.

Für mich war die Impfentscheidung keine leichte. In meinem eigenen Bekanntenkreis sind alle vertreten, von Impfbefürwortern bis zu totalen Impfverweigerern. Warum sind sich die so sicher? Warum fällt es mir so schwer mich zu positionieren?

Ich kann mich nicht erinnern jemals vorher auf soviel Expertentum, Meinungen und Vorurteile gestossen zu sein, wie in der jetzt bald zwei Jahren andauernden Corona- und Impfdiskussion.

Mitten im ersten Lockdown habe ich mich ganz spontan von Facebook abgemeldet, weil ich mich von der Flut an Informationen nicht mehr beeinflussen lassen wollte.

Aber ich musste eine Entscheidung treffen. Dann erkrankten mehrere mir nahe Menschen schwer und schwerst an Corona und ich bekam Angst vor dieser Krankheit. Ich erinnerte mich plötzlich an die Aussage unseres alten Hausarztes. Damals stand die Entscheidung für oder gegen die FSME-Impfung für unsere älteste Tochter an. Wir haben uns viel im Wald aufgehalten und unsere Wälder galten als Risikogebiet. Ich war eher gegen eine Impfung, mein Mann aber dafür. Mit meiner Verunsicherung ging ich zu unserem Hausarzt und er sagte: „Wenn man Angst hat, dann impfen“. Dieser Satz machte mir meine Entscheidung ganz leicht. Damals! Und heute?

Heute hat wieder meine Angst entschieden, auch in diesem Fall für die Impfung. Aber ist Angst ein guter Ratgeber? Steckt nicht auch hinter jeder Verweigerung Angst? Versuchen nicht alle so vehement im Recht zu sein, aus Angst? Die einen aus Angst vor der Pandemie, die anderen aus Angst vor dem Impfstoff?

Es ist eine schwierige Diskussion. Es geht darum Verantwortung zu übernehmen. Und in diesem Fall geht es nicht nur um meinen Körper, meine Gesundheit, sondern auch um die Verantwortung meinen Mitmenschen gegenüber um unsere Zukunft.

Ich bin besorgt über „richtig und falsch“ in dieser Diskussion. Über schwarz oder weiß. Es scheint kein dazwischen zu geben. Alles wird kategorisiert und in eine Schublade von Meinungen und Vorurteilen gesteckt. Je vehementer die eine Seite diskutiert, umso mehr fühlt sich die Gegenseite an die Wand gedrückt. Könnten wir den Blick doch nur auf unsere Nöte richten. Jeder möchte doch dort abgeholt werden, wo es eng wird, wo es gefährlich ist.

Diese Kultur des Rechthabens finden wir genauso in unserem täglichen Leben.

Ich erlebe in meinen Counselings ganz oft Paare und Familien, die sich in einem Machtkampf verstrickt haben. Es scheint keinen Spielraum mehr zu geben. Und manchmal passiert es mir als Beraterin, dass ich insgeheim dem einen oder anderen Recht gebe. Dann habe ich mich verlaufen, dann suche in nach einer Lösung und finde keine.

Sobald ich das wahrnehme, weiß ich wieder, es geht nicht um richtig oder falsch, es geht nicht um das Trennende, es geht nicht um Details. Es geht um Verletzlichkeit, es geht darum, gehört, gesehen und ernst genommen zu werden, wie es Jesper Juul ausgedrückt hat.

Und es geht um unser zutiefst menschliches Bedürfnis, zu einer Gemeinschaft zu gehören.

Wenn ich diesen sicheren Raum schaffen kann, der Verletzlichkeit zulässt, passiert Heilung.

„Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort, dort treffen wir uns“ sagt Rumi. Wo ist dieser Ort? Der Ort ist unsere Verletzlichkeit, unsere Schwäche und unser Mut uns so zu zeigen, in dieser Schönheit und Wahrhaftigkeit. Für die kommende Adventszeit wünsche ich uns Begegnung, dort, an diesem Ort, jenseits von richtig und falsch.